Blauer Pazifik
eine wahre Geschichte aus Australien von Biggi B.
Der kleine Ort heißt Brunswick Heads, ein paar Kilometer nördlich vom Surferparadies Byron Bay. Hier bleiben wir auf einem Campingplatz, nah an den Dünen gelegen.
Der Ort ist niedlich: eine Kneipe, ein Café, eine Post usw. und ein schöner Sandstrand, dem man wohl bis Byron Bay folgen könnte. Nur wenige Einheimische sind unterwegs, gehen spazieren oder angeln.
Wir sind jetzt fünf Tage hier, gehen ins Meer und freuen uns über die hohen Wellen, die einen bodysurfend wieder zum Strand tragen. Abends geht es in die einzig nennenswerte Kneipe. Sie gehört Paul Hogan. Am nächsten Tag geht’s – na klar – wieder an den Strand.
Bill ist Australier, 34, und in Melbourne aufgewachsen. Diesmal bleiben wir lange im Wasser. Bald 40 Minuten sind es und langsam werde ich müde. Eine Welle ist sehr hoch. Ich bin genau da, wo sie bricht und verliere das Gleichgewicht.
Im Wellental komme ich wieder hoch an die Oberfläche – aber kann nicht mehr stehen! Wo mir vorher das Wasser bis zum Bauchnabel ging, ist es auf einmal mindestens einen Meter tiefer! Ich drehe mich zu Bill und rufe um Hilfe.
Die Wellen kommen in ‚sets‘, also immer 4 oder 5 hintereinander. Die, die mich in die Strömung zieht, ist die erste – die zweite ist noch höher. Ich bin im Wasser, unter Wasser. Alles zieht irgendwie an mir und ich drehe mich, ich bin mitten in der Welle. Ich öffne die Augen, aber alles ist blau. Es ist so, wie die Astronauten immer aussehen, wenn sie im Raum umhertreiben und sich drehen – nur habe ich keinerlei Bezugspunkte – alles ist gleich blau.
Ich weiß ich darf nicht irgendwo hinschwimmen, wenn ich nicht weiß, wo oben oder unten ist. Keine Kraft vergeuden. Ich muss langsam hoch, denn ich habe jetzt ausgeatmet. Ich werde schon hochkommen, irgendwann muss ich ja nach oben treiben. Aber das muss jetzt bald sein.
Ein paar Sekunden vergehen und ich MUSS jetzt wirklich nach oben. Ich atme Wasser. Ich sehe, wie meine Mutter den Telefonhörer abnimmt und eine australische Stimme ist dran. “Sorry, something happened to your daugter.“ Mir tut das so furchtbar Leid!
Ich bin an der Oberfläche! Und bereue es fast! Es ist unheimlich laut, die Wellen kommen von überall her. Ich hole Luft und ducke mich wieder. Die Strömung zieht mich runter und ich beginne, immer mit den Wellen Richtung Strand zu kraulen.
Bill ist da und drückt mich in die Brandung. Das erzählt er mir später, ich weiß es nicht mehr.
Ich gucke in den Himmel, ich denke an meine Mutter, ich lege mich in die Wellen und mache mich so flach wie ich kann, wenn die Wellen kommen. Wahrscheinlich sagt mir Bill, dass ich das machen soll. Er ist wieder weit hinter mir und verschwindet hinter den Wellen.
Wir sind beide am Strand. Wir müssen uns übergeben. Ich sehe seinen Rücken: er ist knallrot. Wir müssen hier weg! Raus aus der Sonne.
Wir sind ohnmächtig gewesen und lagen in der Mittagssonne für – wie sich später herausstellt – mehr als eine Stunde. Er kann aufstehen, dann wird er immer schwerer und dann ziehe ich ihn ein paar Meter durch den Sand, aber ich muss aufgeben. Ich sehe ENDLICH andere Menschen, es sind zwei Mädels aus Holland, die mir helfen, Bill hinter die Dünen in den Schatten zu bringen. Uns kommt ein Einheimischer entgegen und legt Bill in die stabile Seitenlage.
Und immer wieder kommen die Wellen und knallen über einem zusammen
Wir bleiben im Krankenhaus für diese Nacht. Bill hört mehrmals kurz auf zu atmen und die Geräte schlagen Alarm. Wir werden aufgrund von Sauerstoffmangel, Wasser in den Lungen und leichten Verbrennungen behandelt, aber das wichtigste ist die Psychologin, die mit uns das Erlebte bespricht und uns Dinge erklärt, die vielleicht passieren werden.
Das kann z. B. der posttraumatische Stress sein, erklärt sie uns - und mich bewahrt sie damit wahrscheinlich vor einigen Selbstzweifeln. Ich weiß, dass es normal ist, immer wieder darüber nachzudenken und sich auszumalen, was alles hätte passieren können.
Man sieht sich aus verschiedenen Kamerapositionen, ähnlich wie bei der Formel 1 im DSF, und immer wieder kommen die Wellen und knallen über einem zusammen. Und dann zieht es einen raus und man wird nie wieder an Land gefunden.
Und dann wundert sich irgendwann meine Mutter. Zwei, drei Wochen später verständigt sie die Botschaft, fliegt an die Ostküste Australiens mit einem Foto von mir in der Hand und fragt in jedem Hostel nach mir, in dem ich vielleicht gewesen sein könnte. Und wird noch Jahre später hoffen, dass sich ihre Tochter vielleicht doch noch irgendwie meldet. Ich bin nicht verrückt: das muss dieser posttraumatische Stress sein!
Nach 10 Tagen Erholung kann ich (endlich) weg von dem Campingplatz, dem Strandabschnitt, den Erinnerungen, dem kleinen Ort, wo mich zu viele Leute kennen, die mich zwar sehr freundlich aber einfach viel zu oft fragen, wie es mir denn geht.
Ein paar Stunden weiter hoch entlang der Ostküste checke ich ein. Ich bin in Noosa angekommen. Das Hostel ist urgemütlich, pink angemalt und nicht direkt am Meer. Das ist gut, denn die Luft riecht nicht nach Salz – mir ist immer noch schlecht, nachdem ich den halben Pazifik ausgetrunken habe.
Vor mir stehen zwei Backpacker und fragen nach den Bodyboards, die das Hostel umsonst rausgibt.
“Sorry!“ kommt nur zurück. “Der Sturm in Brisbane hat die Wellen hier gefährlich hoch gemacht”, erklärt der Besitzer. Das Hostel leiht bis auf weiteres keine Boards mehr aus.
Und dann fügt er noch hinzu: “Letzten Dienstag ist eine Backpackerin ertrunken – hier in Noosa. 23 Jahre. Aus Deutschland.“
Wichtige Hinweise
Eine "Rip" ist eine Strömung. Die Rip erkennt man auch vom Strand aus: das ist da, wo sich zwei ganz leicht unterschiedliche Wellenrichtungen treffen. An der Oberfläche sieht man einen kleinen "schwapp" in Dreiecksform. Von erhöhter Position (Klippe oder aus der Luft) kann man oft den Sand sehen, der ins Meer gezogen wird - als hellbraune Fläche/Streifen (siehe Foto unten).
Bei Warnungen von Lifesavern oder Schildern wie “dangerous currents”, "strong currents" oder ähnliches: Hier gibt es meist mehrere Rips. Dort ist dann auch das Wasser sehr unruhig.